Samstag, 22. 9. 2001

 

 

 

 


Teufelsdreck vertreibt die Geister

 

Der Wandel von der historischen zur hochmodernen Apotheke,
besichtigt von Erik Raidt (Text) und Stefan Schorr (Fotos)

 

 

Wurmpulver, Ameisenvertilgungsmittel und Fleckenwasser hat die Stitzenburg-Apotheke früher selbst hergestellt. Die Zeit der Hausmittelchen in den Apotheken ist vorbei, heute liegen Kosmetika und Diätprodukte neben dem Schmerzmittel im Regal.

 

Bittersüßer Geruch strömt aus dem feuerzeuggroßen Fläschchen, das Elisabeth Luithle aus einer Holzschublade nimmt. Asa foetida steht in schlanker Schreibschrift auf dem Glasgefäß, "Teufelsdreck'', erklärt die 69-jährige Apothekerin. Als sie in den fünfziger Jahren in Hamburg lebte, hat sie vom Teufelsdreck erfahren und davon, dass mancher Bauer mit der Essenz aus Pflanzenharz "seinen Stall besprochen hat''. Böse Geister sollten damit aus dem Gebälk vertrieben, Unheil von Kuh und Schwein abgewendet werden.

 

Von 1976 an regierte Elisabeth Luithle zwei Jahrzehnte lang in der Stitzenburg-Apotheke in der Hohenheimer Straße. Sie herrschte über tausende Medikamente, die sie aus Holzschubladen zog, über hochprozentigen Alkohol, der in Flaschen im Keller lagerte, inmitten einer Jugendstileinrichtung, die in diesen Tagen hundert Jahre alt wird.

 

Neonröhren werfen kaltes Licht in einen warmen Raum, die Offizin, den Verkaufsraum, in dem Kunden beraten und Mittel gegen echte und eingebildete Krankheiten aller Art verkauft werden. Erker, Vitrinen, Spiegel, Schubladen und Regale schlängeln sich an den Wänden der Apotheke entlang - sie bilden ein wuchtiges Ensemble, eine düstere Autorität.

 

Wie Soldaten eines preußischen Garderegiments stehen Glas- und Keramikflaschen mit lateinischen Etiketten aufgereiht in den Regalen. Pflanzenornamente wuchern in tropischem Überschwang über die dunkelbraune Ledertapete. Sabine Kettemann, die vor fünf Jahren die Stitzenburg-Apotheke von Elisabeth Luithle übernahm, streicht mit der Hand über die Messingbeschläge der Schränke. "Ich wollte diese Apotheke, hier habe ich mich sofort wohl gefühlt'', sagt die Pharmazeutin. Laptop, Scanner und Digitalwaage sorgen dafür, dass die Apotheke im 21. Jahrhundert kein Museum ist.

 

1901 eröffnete Albert Wünsch die Stitzenburg-Apotheke und sicherte seinen Kunden "coulanteste Bedienung'' zu. Mit den Schreinerarbeiten beauftragte er die Firma Brauer & Wirth. Die königlichen Hoflieferanten arbeiteten vorwiegend im Schiffsbau, die Apotheke verströmt die Großzügigkeit einer Luxusyacht. Und sie atmet schwer: Bei großer Hitze steht die Luft zwischen dem steinernen Terrazzoboden und der holzvertäfelten Decke in vier Metern Höhe.

 

Medikamente liegen in Holzschubladen, füllen Regale, belagern Nebenräume und den ersten Stock. Eine Apotheke verlangt nach Platz und nach Ordnung. Tabletten, Tropfen, Zäpfchen, Salben und Säfte hat Sabine Kettemann alphabetisch sortiert. Ihre Vorgängerin öffnet zielsicher die Schubladen in einem Schrank mit homöopathischen Essenzen, steigt hinab in den Keller, mit schnellen Schritten immer weiter durch das Medikamentenlabyrinth.

 

Schnell zieht sie auch die Schubladen in ihrer Erinnerung auf. Der Apothekerberuf sei richtiges Handwerk gewesen, als sie Anfang der fünfziger Jahre in die Lehre ging. "Da ist viel verloren gegangen'', bedauert sie. Damals sei der Patient mit einem Rezept vom Arzt gekommen, und der Apotheker hat Zäpfchen gegossen und Tabletten gepresst. "Später haben wir eigene Hausspezialitäten hergestellt.'' Von weit her sind die Leute gekommen, um eine Salbe für Wundheilungen zu kaufen. Heute sind Medikamente überwiegend industriell gefertigte Massenprodukte, deren Zulassung Behörden reglementieren.

 

Neben einer Kupferwaage liegt auf einem der hinteren Regale ein Buch mit abgegriffenen Ecken und verblasstem handgeschriebenem Titel. "Eigene Verordnungen'' verraten die fast vergessenen Hausrezepte der Apotheke. Wurmpulver, Ameisenvertilgungsmittel, Fleckenwasser. Vergangenheit. So wie die Geschichte des ehemaligen Besitzers der Apotheke. Von seinem Schreibtisch im Nebenzimmer beobachtete er Kunden und Angestellte durch einen Spion. Hätte er durch diesen Spion nicht in den Verkaufsraum, sondern in die Zukunft der Apotheke sehen können, wäre ihm James aufgefallen.

 

Uhlberg-Apotheke, Filderstadt-Bonlanden. Wie ein Geschoss fliegt James' Greifarm durch einen acht Meter langen schmalen Raum. Ein hoher sirrender Ton begleitet die Zielsuche des Roboters. Ein Stab, der einem Billardqueue ähnelt, nimmt eine Medikamentenschachtel ins Visier. Mit Unterdruck saugt er sie an, zwei Backen klemmen das Medikament ein. Der Greifarm schnellt vor einen Schacht und gibt die Arznei frei, die auf einer Metallrutsche in den Verkaufsraum fällt.

 

James haben die Mitarbeiter von Joachim Gädeke den Roboter getauft, der ihnen den Gang zu Schubladen und Fächern erspart. "Teufelszeug'' hat eine 86-jährige Kundin geschimpft. 250000 Mark investierte Joachim Gädeke vor zwei Jahren in den Arzneimittelapporteur. Wenn ein Mitarbeiter per Computer ein Medikament anfordert, liegt es nach fünf Sekunden im Ausgabefach.

 

Rund 10000 Medikamente lagern in dem schlauchförmigen Raum, den James bearbeitet, der Computer sortiert nach Packungsgrößen. Der Roboter benötigt keine alphabetische Ordnung wie in einer gewöhnlichen Apotheke. Er verteilt die Arzneien auf langgestreckten durchnummerierten Glasplatten. Magazin 6, Reihe 18: ein Präparat gegen Heuschnupfen. Magazin 1, Reihe 7: ein Mittel gegen Blähungen. Alles wohltemperiert bei 20 Grad. "Viele Apotheken leiden unter Platzproblemen und entscheiden sich für einen solchen Kommissionierautomaten'', sagt der Inhaber der Uhlberg-Apotheke.

 

In seinem hellen Verkaufsraum stehen nur noch Produkte mit "guten Verkaufszahlen'', sortiert nach Themen wie Schmerz und Vitamine. Joachim Gädeke kennt sich mit Medikamenten aus und mit Geschäften. "In den nächsten zehn Jahren wird sich die Zahl der Diabetiker verdoppeln, wir richten unsere Strategie nach dem Markt'', sagt der 56-Jährige mit dem energischen Händedruck. Ernährungspräparate, Blutzucker- und Blutdruckmessgeräte füllen ein ganzes Regal. Kunden können sich hier ihren Body-Mass-Index aus Größe und Gewicht errechnen lassen, und wenn die Waage Unangenehmes enthüllt, stehen nebenan Diätprodukte in den Geschmacksrichtungen Schoko royale, Café au lait und Vanille.

 

Nichtarzneimittel machen heute bereits 20 Prozent von Gädekes Umsatz aus. Er setzt auf Anti-Aging-Gesichtscremes, Duschgel und auf Vitamintabletten mit Mango-Orange-Geschmack. Apotheken stehen heute in Konkurrenz zu Tankstellen und Drogeriemärkten, die ihr Sortiment ebenfalls erweitert haben. "Beim Preis können wir mit Schlecker nicht mithalten'', sagt Gädeke. "Wir müssen durch Service punkten'', sagt der Mann von der Schwäbischen Alb, dessen 18 Mitarbeiter auch E-Mail-Anfragen beantworten. Für die Apotheken wird der persönliche Kontakt zu den Kunden immer wichtiger.

 

Schließlich drängen neue Apotheken auf den Markt. Sie besitzen kein nostalgisches Flair, keine Hausrezepte und keinen Notschalter. Ihre Verkaufsräume werden nach Megabyte, nicht nach Quadratmetern berechnet. Internet-Apotheken verkaufen vor allem teure Medikamente, es entstehen keine Kosten für die Beratung. Die Apotheken in Stuttgart, gleich ob mit historischer Jugendstil-Einrichtung oder mit Hightech-Sortierer, haben eine Abwehrfront gegen die "Rosinenpicker'' aufgebaut. Und kämpfen gegen einen weiteren grundlegenden Wandel.

 

mehr dazu in den Stuttgarter Nachrichten vom 31.10.2001   

 

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